Backstage

Essay

Tänzer müssen fliegen! August Bournonvilles romantische Ballettpantomime »Napoli«

von Anna Beke

„Der Tanz ist eine Kunst, weil er Berufung, Wissen und Können erfordert. Er ist eine schöne Kunst, weil er nach einem Ideal strebt [...]. Die Schönheit, nach der der Tanz streben muss, hängt nicht von Geschmack oder Vergnügen ab, sondern beruht auf den unveränderlichen Gesetzen der Natur.“ –August Bournonville (1848)

Nur ein Jahr liegt zwischen ihnen – »Giselle« (1841), dem Gipfelwerk französischer Ballettromantik und der Ballettpantomime »Napoli« (1842), welche zuweilen als Nationalballett Dänemarks bezeichnet wird – und doch scheinen Welten zwischen ihnen zu liegen: Markiert »Giselle« das fulminante Ende seiner Epoche, so deutet Napoli bereits auf die nachfolgende Periode der Ballettklassik hin, ohne sich jedoch von zentralen tradierten Idealen zu lösen. Gemeinsam mit »La Sylphide« (1836), dessen Titelpartie Bournonville seiner dänischen Lieblingsballerina Lucile Grahn – der späteren ersten Ballettdirektorin Münchens – auf den Leib schneiderte, gilt das folkloristische »Napoli« als Hauptwerk des bedeutendsten dänischen Choreografen August Bournonville (1805-1879); selbst, wenn er aufgrund seiner französisch-schwedischen Wurzeln strenggenommen gar kein Däne war, doch dies kam im Ballett häufiger vor.

 

Eine italienische Reise

Goethe, Mendelssohn Bartholdy, Bournonville – immer wieder bot eine italienische Reise Anlass zum Entstehen großer Kunst und inspirierte der mediterrane Sehnsuchtsort zu kreativem Schaffen. Bei Bournonville hatte der Aufbruch gen Süden einen wenig romantischen Grund: Nachdem der Leiter des Königlich Dänischen Balletts König Christian VIII öffentlich brüskiert hatte und seine Heimat 1841 für einige Zeit verlassen musste, nutzte er die erzwungene Freiheit für einen künstlerischen Jakobsweg nach Italien. Auf einer endlos monotonen Kutschfahrt, heißt es, habe er stundenlang eine Melodie vor sich hin gesummt, die kompositorische Grundlage der Tarantella aus »Napoli« werden sollte – Herzstück des Balletts. In Neapel angekommen, zeigte sich Bournonville derart beeindruckt von der Leuchtkraft, vitalen Lebensfreude und dem Herzschlag der süditalienischen Schönheit, dass er beschloss, den unbeschreiblichen Zauber Neapels einzufangen, das Unaussprechliche mit der Sprache des Tanzes.

Napoli, oder der Fischer und seine Braut

Vier Komponisten beauftragte Bournonville nach seiner Rückkehr nach Dänemark mit der Musik zur Ballettpantomime »Napoli«, die am 29. März 1842 im Königlichen Theater Kopenhagen zur Uraufführung fand. Für das musikalisch heiter-bunte Potpourri zeigten sich verantwortlich: Edvard Helsted und Holger Simon Paulli für den ersten bzw. dritten Akt, Niels W. Gade für die dazwischenliegende Grottenszene sowie Hans Christian Lumbye für den Galopp, sprudelndes Finale des Balletts. Weiterhin fand eine Arie aus Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ (1816) für die charakteristisch italienische Klangfarbe wie auch die populäre Melodie La Melancholie des Geigen-Virtuosen François Prume Eingang in die Tonschöpfung.

In seiner choreografischen Struktur folgte Bournonville nicht der idealtypischen Zweiteilung der Romantik, die für die handlungstragende ‚bunte‘ bzw. transzendentale ‚weiße‘ Seite eines Balletts einstand, sondern spaltete diese duale Welt in drei Akte auf, mit Betonung auf die ‚realistische‘ Seite irdischen Seins – so wie später typisch für Petipa. Überhaupt interessierte Bournonville das Metaphysische nur marginal, da seiner Überzeugung nach, ein Ballett in erster Linie Ausdruck sinnerfüllter Lebensfreude einer bürgerlich-harmonischen Welt sein sollte – Ideale des Goldenen Zeitalters Dänemarks. Aus diesem Grund überwiegen weniger die bedrohlich-dramatischen Momente des Handlungsballetts als vielmehr die Zelebration der Schönheit irdischen Lebens. Für das von volkstümlichen Erzählungen inspirierte Szenario zeigte sich der literarisch bewanderte Choreograf Bournonville – ein enger Freund Hans Christian Andersens – selbst verantwortlich; dieses erzählt von der turbulenten Liebesgeschichte des Brautpaares Teresina und Gennaro, das vor dem glücklichen Ende zahlreiche Hindernisse überwinden muss – mit Beistand nicht nur der Erde, sondern auch des Himmels.

Zuletzt steht einem rauschenden Hochzeitsfest auch dieses Balletts nichts mehr im Wege und wird mit ausgelassener Tarantella des Liebespaares als freudvoller Kulminationspunkt beschlossen.

Der dritte Akt von »Napoli«, der mit reichlich italienisch eingefärbtem Charaktertanz auftrumpfen kann, gilt als eigentliches Meisterwerk des Balletts, weshalb er von Kompanien außerhalb Dänemarks auch häufig losgelöst von den beiden anderen Akten auf die Bühne gebracht wird – wobei eben besonders der Pas de six mit feuriger Tarantella als Herzstück des gesamten Balletts verstanden wird. Dies Divertissement wiederum kann als signifikant für das Werk Bournonvilles gelten, indem hier gerade kein Pas de deux, sondern ein Ensemblestück im Kleinformat das eigentliche Highlight des Balletts darstellt, eines, in dem vor allem gemeinsam getanzt wird: die erste Ballerina Seite an Seite mit ihren Tänzerkollegen wie auch mit ihrem Bühnenpartner. Immer wieder wird dem dänischen Choreografen hochangerechnet, dass er den Männertanz zu einer Zeit als treibende Kraft förderte und ihm eine gleichberechtigte Rolle zugestand, in welcher der Ballerino andernorts belächelt, negiert und durch die Dominanz der Ballerina bzw. dem ballet en travesti zunehmend von der Bühne verdrängt worden war.

Typisch Bournonville!

Als Aushängeschild eines exzellenten männlichen Tänzers galten für Bournonville eine äußerst flinke battierte Sprung- und Drehtechnik, die mit simpel gehaltenen Armen – oftmals in Grundposition – kontrastiert. Für den Bournonville-Stil charakteristisch sind darüber hinaus für Tänzer beiden Geschlechts Leichtigkeit und die Illusion müheloser Überwindung der Schwerkraft, wie auch Jan Broeckx, Institutsleiter der Münchner Ballett-Akademie, konstatiert: „Bournonville – man sieht es sofort. Sprungkraft, Sprünge, schnelle Batterie, leicht und fröhlich.“ Geradewegs fliegen können müssen die Tänzer – die männlichen wie die weiblichen. Weiterhin galt für Bournonville natürliche Anmut als oberstes Gebot und tanztechnische Virtuosität um ihrer selbst willen war von ihm verpönt. Größtmögliche Harmonie zwischen Technik und Ausdruck, den miteinander agierenden Tänzern wie auch vor allem zwischen Tanz und Musik galt es für Bournonville zu erreichen; wobei er die Beine als Rhythmus und die Arme als Melodie der Musik verstand, welche der Tanz gleichsam zu parallelisieren und zu visualisieren hatte – ähnlich wie im 20. Jahrhundert bei George Balanchine der Fall.

Obwohl Münchner Studierende in erster Linie nach der Waganowa-Methode ausgebildet werden, erklärt Broeckx leichterhand, warum die angehenden Tänzer auch dringend mit Bournonville Erfahrung sammeln sollten: „Es ist wichtig diesen Stil zu lernen – diesen, aber auch andere: Waganowa ist bei uns die Basis, aber es ist unausweichlich andere Techniken kennenzulernen, eben z. B. die Bournonville-Technik, die französische Schule oder auch Balanchine. Erst alle zusammen machen einen Tänzer!“

Nur das Ganze macht einen Tänzer – in der Kunstform Ballett stimmt dies allemal, in welche als Konglomerat vielfältige Ausformungen der danse d’école einfließen: die der italienischen und französischen, später der russischen oder dänischen Schule. Auch Bournonville hat als ‚dänischster‘ aller Choreografen mit seiner für ihn ‚typischen‘ Technik vor allem den frühen französischen Stil – die école ancienne – ungefiltert und in einer solchen Reinform bewahrt, wie nicht einmal die französische Schule selbst, da sie mit Ende der Ballettromantik zunächst ihrem Verfall entgegenging. In dieser Hinsicht stellt Bournonvilles künstlerisches Erbe in der Tat auch einen immanent wichtigen, da einmaligen Link zu den früheren Balletttraditionen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar. Womöglich ist es gar als Bournonvilles überhaupt größte Leistung anzusehen, dass er die Tradition seiner Kunstform für die Nachwelt bewahrt hat. Einer Tradition, die seit zwei Jahrhunderten ungebrochen beim Königlichen Ballett Dänemarks in Kopenhagen existiert und am Leben gehalten wird – dies allerdings eben nicht als Relikt einer ‚toten Kunstform‘, sondern einer, die speziell bei Bournonville für Lebensfreude, Diesseitigkeit und Gegenwärtigkeit einsteht. Vielleicht ist dies ein Hauptgrund, warum Bournonville Ballette auch nach zwei Jahrhunderten noch Aktualität besitzen und gewissermaßen unsterblich sind, wie Jan Broeckx abschließend feststellt: „Die Ballette Bournonvilles sind zeitlos – sie gehen einfach immer und werden nicht alt. Bournonville, das ist wirklich Tanzen. Tanzen – und Fliegen!“